Wie ein Blitz in der Nacht—Daniel Jassers malerische Beschwörung der

Geschichte in einer Gegenwart ohne Gedächtnis

 

Man spürt, dass etwas anders ist. Kaum Kunst an den Wänden, nur einige wenige

Tafeln hinter Acrylglas, aber dafür eine Spannung im Raum, die sich auf den Körper überträgt, Der Leib reagiert spontan, noch bevor das Auge sieht und der Geist begreift. Die Farbe, die Daniel Jasser direkt auf die Wand aufträgt, verändert die Atmosphäre. Wir stehen nicht in einem Kunstcontainer mit neutralen weißen Wänden, dem white cube als klassischem Ausstellungsort für moderne Kunst. Wir stehen in einem Raum, der selbst Kunst ist.

Daniel Jasser malt al fresco. Dabei wird die Farbe nicht auf eine 

Leinwand, sondern direkt auf die Wand aufgetragen. Es ist eine alte Technik. Wer einmal die Ruinen von Pompeji gesehen hat, der weiß, dass schon die Römer sie nutzen. In der Renaissance war Giotto der überragende Künstler dieser Art von Malerei, im Barock Tiepolo. Wer sich ihrer heute, wo sie eher selten ist, bedient, beschwört Geschichte herauf. Dem Betrachter von Daniel Jassers Wandmalerei öffnet sich ein Fenster in die Tiefe der Zeit.

Du musst dein Leben ändern. Mit diesen Worten endet ein berühmtes Gedicht von

Rainer Maria Rilke. Es schildert die Erfahrungen beim Anblick eines antiken Torsos. Daniel Jassers Kunst ist zurückhaltender. Sie kennt nicht den direkten Appell an den Betrachter. Aber sie stellt, wie jede Kunst, die mehr als dekorativ ist, Fragen, die unsere Existenz betreffen. Und die noch lange nach dem Besuch der Ausstellung in uns nachhallen. 

Man kann sich leicht im Anblick von Jassers virtuos gemalten

Farbschichten verlieren. Im Blau, das mit einem gedämpften Gelb durchsetzt ist, im matten Rot, im schimmernden Ocker. Man kann aber auch fragen, was es ist, das wir da sehen. Es ist die Spur gelebter Zeit, jener Tage und Stunden, in denen der Künstler den Raum in das verwandelt hat, was heute vor uns steht. Und dann trifft uns womöglich die Erkenntnis, hell wie ein Blitz in der Nacht, dass unser ausschließlich auf die Gegenwart fixiertes Leben ein Irrtum ist. Alles sofort im Internet finden, alles dort kaufen zu können—ist dies das wiedergefundene Paradies, die Antwort auf mehr als 2000 Jahre Suche der Menschheit nach Erlösung?

Je länger man Daniel Jassers Arbeiten betrachtet, desto stärker tritt

ihr irritierendes Potenzial zutage. Freskomalerei war einmal für die Ewigkeit gedacht oder zumindest für die Zeit, in der das Gebäude existiert, dessen Wände sie schmückt. Jassers Malerei verschwindet dagegen nach dem Ende der Ausstellung. Es ist wie bei einer Performance: was bleibt, ist die Erinnerung. Die aber sollten wir nicht geringschätzen. Ohne Gedächtnis wären wir nichts. Je reicher die Erfahrungen sind, die wir gemacht haben, desto stärker bilden wir unsere Individualität aus.

Daniel Jassers Kunst spricht das Auge an: die Lasuren, die Ton-in-Ton-Malerei,

die kaum merklichen Übergänge von einer Farbe zur anderen. Aber sie eröffnet auch einen Reflexionsraum, der weit über das, was man unmittelbar sieht, hinausgeht. Der unabweisbare Impuls, der von Jassers Kunst ausgeht, sofern wir uns auf sie einlassen, ist die nach unserem eigenen Verhältnis zur Zeit. Die Fresken mit ihrem halb ernsten, halb spielerischen Verhältnis zur Vergangenheit ermuntern uns dazu, den Angriff der Gegenwart auf unser Leben zu parieren. Die Zeit ist mehr als eine Abfolge von Deadlines. Sie ist eine Fülle von Möglichkeiten. Daniel Jasser macht es uns vor. Malt er einen Raum aus, ist er ganz bei sich. Kostet jede Minute aus. Als Betrachter können wir das nachvollziehen. Und im sinnlichen Nachvollzug jenes Glück spüren, dass den Maler durchströmte, als er die Farben auftrug, die nun etwas in uns zum Klingen und Schwingen bringen.

 

Rainer Unruh, Hamburg, September 2018